GASTKOMMENTAR - Die Presse, vom 31. Jänner 2022

Warum Österreich ein souveränes Europa stärken muss

 In Europa herrscht Angst, es drohen die Auslöschung von Existenzen, Elend und Flucht – es droht ein Krieg. Russische Streitkräfte könnten die Ukraine angreifen, sollten die USA den Forderungen des Kremls hinsichtlich künftiger NATO-Erweiterungen sowie eines Abzugs von Truppen in jenen Staaten, die der Allianz angehören, nicht entgegenkommen. Die EU setzt sich für die Souveränität der Ukraine ein und verurteilt das russische Vorgehen scharf. Da ein Krieg massive sicherheitspolitische und wirtschaftliche Auswirkungen auf Österreich hätte, muss eine bewaffnete Auseinandersetzung verhindert werden. Die Argumentation, wonach ein Beitritt Österreichs zur NATO unsere Bevölkerung besser schützen und zur Verhinderung eines Krieges beitragen würde, widerspricht jeglicher Logik und empirischen Tatsachen. Im Gegenteil, der sicherheitspolitische Mehrwert der Neutralität und die damit verbundenen Erfahrungen sollten genutzt werden.

Österreich wurde ein freies und souveränes Land, weil sich die weltkriegserfahrenen Politiker der damaligen Koalition bewusst für die Neutralität entschieden haben. Dies war die Konsequenz der aktiven Beteiligung an den Vernichtungskriegen des Nazi-Regimes und der Mitverantwortung an der Shoa. Die Alternative wäre eine traumatische Teilung der Menschen und ihrer Familien entlang der Besatzungslinien, die sich in feindlichen Militärbündnissen gegenübergestanden wären. Stattdessen wurde das neutrale Österreich Zentrum internationaler Organisationen und trug erfolgreich zur Entspannung und Deeskalation in Europa bei. Bis heute profitiert Österreich davon, Sitz der UNO und OSZE zu sein. Deshalb ist für 80% der Österreicher die Neutralität wichtig und ihre Marginalisierung unpatriotisch.

Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, sagte unmissverständlich, dass die Sicherheit Europas nicht zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml bilateral oder im Rahmen des NATO-Russland-Rates entschieden werden kann. Die EU müsse an der künftigen europäischen Sicherheitsordnung mitwirken. Sowohl Deutschland als auch Frankreich streben Stabilität und Sicherheit in einem souveränen Europa an. Nachdem bisherige amerikanisch-russische Treffen sowie Verhandlungen im NATO-Russland-Rat keine Ergebnisse gebracht haben, liegt die Hoffnung bei Paris und Berlin und sollte von Österreich aktiv unterstützt werden.

Dass die Sicherheit Europas nicht auf den Schutzversprechen von Großmächten beruhen darf, sondern in Eigenverantwortung bei den Europäern liegen muss, ist offensichtlich. Zwar bleibt die euroatlantische Zusammenarbeit zentral für die Sicherheit und Verteidigung Europas, doch angesichts der Verlagerung der strategischen Interessen der USA in den indopazifischen Raum, wird Europa mittelfristig selbst Verantwortung für den Kontinent übernehmen müssen. Von den 30 Staaten, die der NATO angehören, sind 22 EU-Mitgliedsländer. Sie stellen das Fundament der europäischen Sicherheit dar. Dass die Handlungsfähigkeit beim Schutz der eigenen Bevölkerung nicht von anderen abhängig sein darf, zeigen die Lehren der Evakuierungsmaßnahmen infolge des Siegeszuges der Taliban in Afghanistan. Die strategische Souveränität der EU bei Fragen der Sicherheit und Verteidigung garantiert langfristig Frieden und Stabilität. Das neutrale Österreich sollte die friedensstiftende Tradition der Kreisky-Ära fortführen und auf diplomatischem Parkett eine aktive Vermittlerrolle einnehmen.

Zurück
Zurück

Blackout: Nur eine ganzheitliche Krisenvorsorge führt zum Erfolg

Weiter
Weiter

Teilnahme am Nationalen Sicherheitsrat