Das US-Debakel in Afghanistan lässt nur einen Schluss zu: Europa muss sicherheitspolitisch und militärisch endlich erwachsen werden!
Die soeben erfolgte Machtübernahme Afghanistans durch die radikal-islamistischen Taliban wird weltweit folgenreiche Auswirkungen hervorrufen. Neben zu erwartbaren Migrationsbewegungen aus Afghanistan in die Anrainerstaaten des Mittleren und Nahen Ostens bzw. nach Europa gehen Sicherheitsexperten von einem Erstarken islamistischer Terrorgruppen aus, wobei auch die Gefahr einer Infiltration durch gewaltbereite „Gotteskrieger“ in EU-Länder besteht.
Für mich ist das von den USA und der NATO verursachte Debakel in Afghanistan ein Warnsignal an Europa, endlich militärisch autark zu werden und – als eigenständiger Akteur – geopolitische EU-Interessen zu verfolgen. Die Situation in Afghanistan bietet die Chance für ein akkordiertes Vorgehen der Europäischen Union im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es wäre an der Zeit die militärische Emanzipation von den USA einzuläuten.
Der Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan bestätigt die geostrategische Linie der Biden-Administration, sich verstärkt auf den pazifischen Raum und China zu fokussieren. Die instabile Lage im Nahen und Mittleren Osten infolge kriegerischer Auseinandersetzungen wird somit zunehmend zu einem – auch geographisch bedingtem – Problem für Europa, da die Vereinigten Staaten das Interesse an sämtlichen Interventionen in diesen Regionen längst verloren haben.
Um die „verbrannte Erde“ in jenen Teilen der Welt umzukehren und stabile Strukturen vor Ort zu schaffen, braucht es ein von der EU geführtes Friedens- und Wiederaufbauprogramm. Nur so können perspektivisch Migrationsbewegungen bewältigt werden und dem menschenverachtenden Geschäft krimineller Schlepperbanden und Menschenhändlern Einhalt geboten werden. Gleichzeitig wird die „innere Sicherheit“ in der Europäischen Union nicht durch potenzielle radikalisierte Gefährder beeinträchtigt. Die EU steht in der Pflicht rigoros an den Außengrenzen dafür Sorge zu tragen, dass keine radikalen Extremisten und religiöse Fundamentalisten nach Europa gelangen.
Die zahlreichen militärischen Interventionen des Westens im Nahen Osten, Afrika und Afghanistan haben ihre Spuren hinterlassen. Die Reihe der sogenannten "failed states" wird immer länger. Die USA haben deutlich gemacht: Afghanistan ist "eure Baustelle".
Daher gilt es den Weg der Vernunft einzuschlagen und die Stabilität vor Ort, aber auch damit einhergehend die Sicherheit in Europa auf neue Beine zu stellen. Eine Wiederholdung von 2015, wo Menschen unkontrolliert nach Europa eingewandert sind, darf es unter keinen Umständen geben.
Daher brauchen wir, neben einem funktionierenden EU-Außengrenzschutz, vor allem eine reformierte Organisation Frontex sowie weitreichende wirtschaftliche Stabilisierungsmaßnahmen in vom Zerfall bedrohten Regionen, um nachhaltige Prozesse einzuleiten, die Frieden ermöglichen und der Bevölkerung eine Perspektive für die Zukunft bieten.
Für mich als Sozialdemokrat muss die Europäische Union die Rolle eines globalen Friedens- und Ordnungsakteurs einnehmen – mit Unterstützung der Vereinten Nationen, die durch eine deutliche Aufwertung wieder an politischem Gewicht zulegen müssen. Österreich als UN-Sitz muss sich für dieses Ziel einsetzen, zumal im Raum steht, dass Österreich als nichtständiges Mitglied einen Sitz im UN-Sicherheitsrat anstrebt.
Bei der Frage, wie die Sicherheitslage vor Ort zu realisieren ist, gilt es natürlich die Anrainerstaaten Afghanistans mit an Bord zu holen. Die gedeihliche Kooperation mit Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan und vor allem dem Iran, das für Österreich und Zentraleuropa relevanteste Transitland, ist mitentscheidend, um schnellstmöglich humane und sichere Lebensbedingungen für die Flüchtlinge zu schaffen.
Die Europäische Union ist das Gegenmodell zum radikalen Steinzeit-Islamismus. Mit ihrem Wertekanon und Menschenbild ist die EU der einzige Garant, um in den Krisenregionen mittel- bis langfristig Frieden und Stabilität herzustellen. Für Europa bietet sich jetzt die Chance sich von den Vereinigten Staaten abzunabeln, sich globalpolitisch neu zu positionieren und seine Rolle zu finden.
Dabei müssen wir einen eigenständigen Weg entwickeln, der nicht in der Sackgasse von isolierten militärischen Interventionen endet. Mit bloßer Waffengewalt können wir diese Ideologie nicht besiegen. Diese Erkenntnis gilt insbesondere für Afghanistan – und lässt sich bis ins Jahr 1979 zurückverfolgen.
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