Parlamentarische Anfrage zu “Defender Europe 21”
Dass dieser Tage – von ÖVP-Ministern genehmigte – militärische Truppentransporte der NATO durch österreichisches Staatsgebiet rollen, ist ein Thema, dass der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden darf. Es handelt sich hierbei um ein Großmanöver in Ost-Europa mit dem Namen „Defender Europe 21“.
Gerade in instabilen Zeiten, wo kriegerische Konflikte, aggressive Kriegsrhetorik und geopolitisches „Säbelrasseln“ zunehmend die internationalen Schlagzeilen bestimmen, ist jedes „Spiel mit dem Feuer“ entbehrlich. Vor allem, wenn dies vor unserer „Haustüre“ geschieht.
Österreich ist ein bündnisfreies und neutrales Land, das im Umgang mit Militärbündnissen eine besondere Sorgfalt an den Tag legen muss. Nicht umsonst hat sich Österreich per Verfassung dazu verpflichtet keinem militärischen Bündnis beizutreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Hoheitsgebiet nicht zuzulassen.
Die Republik Österreich steht für Friedensgespräche, Friedensaufbau und Friedenserhaltung. Darin liegt unsere Stärke. Das können wir, auch wenn derzeit eine politische Partei die Diplomatie Österreichs und seine Vermittlerrolle schwer in Verruf bringt. Umso mehr müssen wir unsere neutrale Position in der Weltgemeinschaft bekräftigen und gezielt Anstrengungen unternehmen, Konflikte zu vermeiden und Menschenleben zu schützen.
Um Licht in den Transport von Waffen und Soldat*innen durch Österreich zu bringen, habe ich eine Parlamentarische Anfrage an ÖVP-Verteidigungsministerin Tanner gestellt. Ich darf euch diese nachstehend in vollem Wortlaut zur Kenntnis bringen:
Anfrage der Abgeordneten Robert Laimer und Genoss*innen an die Bundesministerin für Landesverteidigung betreffend militärischer Truppentransporte (Defender Europe 21) durch österreichisches Staatsgebiet zum Zwecke eines NATO-Großmanövers.
Am 20. April 2021 informierte das Bundesministerium für Landesverteidigung via OTS die Öffentlichkeit mit der Überschrift: „Internationale Übung: Transport durch Österreich“. Einen Tag später veröffentlicht „Salzburg24“ einen Artikel mit dem Titel: „Transporte durch Österreich für NATO-Übung – Militärbündnis im Großmanöver“, wodurch sich das diesbezüglich unverfängliche „Ministeriums-Stimmungsbild“ einer „üblichen“ und somit routinemäßigen internationalen Übung deutlich verändert hatte.
Im Artikel wird beschrieben, dass „Österreich den USA und ihren NATO-Partnern militärische Truppentransporte gestattet: Von 7. Mai bis 21. Juni werden für das Großmanöver ‚Defender Europe 2021‘ Verlegungen von US-Streitkräften auf der Straße und per Eisenbahn, von Deutschland über Österreich nach Ungarn sowie nach Slowenien und retour stattfinden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Dabei werden rund 800 Fahrzeuge mit etwa 2.000 Soldaten in Konvois auf zwei vorgegebenen Routen Österreich durchfahren.“
Bezüglich dieser von den USA geführten NATO-Militärübung heißt es aus dem Pentagon, dem US-Verteidigungsministerium, dass die Übung „Defender Europe 21“ von „Natur aus defensiv“ sei und die „Abschreckung einer Aggression“ bezweckt. Dabei sollen die eigenen Kräfte auf „Krisen zu reagieren“ sowie auf „Kampfoperation größeren Ausmaßeses“ vorbereitet werden, falls es notwendig wäre.
An dieser Militärgroßübung, die bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gemäß dem Wiener Dokument 2011 über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen angemeldet werden musste, nehmen laut Information des US-Verteidigungsministeriums insgesamt 28.000 Personen aus 20 Staaten teil. „Die Grundlage für die Durchfahrt von ausländischen Armeen bzw. Angehörigen ausländischer Truppen ist das ‚Truppenaufenthaltsgesetz 2001‘.
Ein entsprechender Antrag wurde auf (militär-)diplomatischer Ebene gestellt und durch das Bundesministerium für Landesverteidigung im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten genehmigt.“
Problematisch erscheint, dass sowohl über die Anzahl der teilnehmenden Personen als auch der involvierten Staaten selbst NATO-Vertreter auf widersprüchliche Angaben in der Öffentlichkeit hinweisen. So sagte US-Generalleutnant Brice Houdet, stellvertretender Chef des Stabes im Obersten Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte in Europa (SHAPE), unmittelbar vor der Übung, dass die von Pentagon lancierte Zahl von 28.000 Militärangehörigen an der Übung "unrealistisch" sei.
Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass der österreichischen Bundesregierung und somit auch dem Bundesministerium für Landesverteidigung keine vollständigen Informationen über das NATO-Großmanöver zum Zeitpunkt der Entscheidung hinsichtlich der Genehmigung des Truppentransportes vorlagen.
Es ist daher auch fraglich, ob dadurch der geopolitische Zusammenhang der Übung richtig beurteilt werden konnte, falls man sich nur an die Angaben des Pentagon verlassen hatte. Die Tatsache, dass an Defender Europe 21 nicht einmal die Streitkräfte aller europäischen NATO-Mitgliedsländer und somit westlicher EU-Staaten teilnehmen, aber dafür u.a. Georgien und die Ukraine, muss die von den USA geführte Übung zusätzlich zur neutralitätsrelevanten Fragestellung auch aus der Perspektive der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU (neu-)bewertet werden.
Der militärische Mehrwert der Übung ist klar von den (geo-)politischen Interessen jener am Manöver involvierten Staaten zu trennen. Der Erfahrungsgewinn vor allem für die Militärlogistik des Österreichischen Bundesheeres (ÖBH) im Zuge des US-Transportes sowie eine generelle enge Kooperation der befreundeten Streitkräfte der USA und Österreichs wird begrüßt. Kooperationen mit den US-Streitkräften stellen zudem einen Mehrwert für die Fähigkeitsentwicklung des ÖBH und somit für die Sicherheit Österreichs dar, diese sollen jedoch auf bilateraler Ebenen und ohne Kontext von geopolitischen Konflikten stattfinden.
Priorität wäre allerdings solchen Kooperationen einzuräumen, die zur nachhaltigen Fähigkeitsentwicklung im Rahmen der GSVP beitragen. Dabei können auch die USA als Drittstaat eine Rolle spielen. Aus Sicht der SPÖ wird der politische Charakter von „Defender Europe 21“ seitens der ÖVP-Grünen Bundesregierung grob vernachlässigt.
Aufgrund der geopolitischen Konnotation der Übung muss der sich verschärfende Großmachtkonflikt zwischen den USA und Russland insbesondere im Hinblick auf die Ukraine in den Vordergrund der politischen Beurteilung des Transportes von Personal und Gerät der US-Streitkräfte durch Österreich gestellt werden. Diesbezüglich wäre der Passus des Truppenaufenthaltsgesetzes, wonach die Nutzung des österreichischen Territoriums nicht im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen darf, einer rechtlichen und politischen Evaluierung mit entsprechender Diskussion im Nationalrat zu unterziehen. Dies muss im engen Zusammenhang der GSVP und den generellen Absichten der EU gesehen werden, eine strategische Autonomie im außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfeld zu erlangen. Vor diesem Hintergrund wäre zu eruieren, warum sich z.B. Frankreich an „Defender Europe 21“ nicht beteiligt.
Zwar wird von offiziellen Stellen der USA und NATO der „defensive Charakter“ der Übung betont, allerdings sind geopolitische Interessenskonflikte sowie Machtansprüche rivalisierender Akteure am Westbalkan sowie dem Schwarzen Meer offensichtlich, insbesondere wenn Ukraine an der Übung teilnimmt. Gerade der im April 2021 erfolgte massive Truppenaufmarsch von rund 120.000 Angehörigen der russischen Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenze und deren Erprobung der Kampfbereitschaft, die Absicht der USA, Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu entsenden und tödliche Waffen im großen Stil an die Ukraine zu liefern, deuten auf eine gefährliche Entwicklung hin.
Die Drohung ukrainischer Diplomaten, bei einer Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO, sich nuklear zu bewaffnen, löste selbst in der NATO großes Befremden aus. Auch das mühsam mittels OSZE erreichte Minsk-II-Abkommen zur friedlichen Konfliktbeilegung wird weiterhin in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund erhält das NATO-Großmanöver eine zentrale geopolitische Bedeutung. Zusätzlich müsste geklärt werden, ob das aggressive Aufkommen russischer Streitkräfte im April nicht im direkten Zusammenhang mit „Defender Europe 21“ steht.
Russland soll die Teilnahme an einem OSZE-Treffen am 10. April zur Feststellung der eigenen Truppenstärke an der ukrainischen Grenze verweigert haben. In diesem Zusammenhang wird der russische Verteidigungsminister, Sergej Schoigu, in westlichen Medien zitiert, wonach die „Überprüfung der russischen Kampfbereitschaft eine Antwort auf die militärischen Aktivitäten der NATO“ war. Dem Aufbau zusätzlicher militärischer Eskalationspotentiale wäre vorzubeugen und eine Verhandlungslösung unter Stärkung der OSZE zu fördern.
Insgesamt erhält daher der politische Charakter der Übung „Defender Europe 21“ einen gewichtigen Stellenwert. Die Spannungen zwischen USA/NATO und Russland machen daher das Neutralitätsgesetz bei der Beurteilung hinsichtlich der Gewährung von Durchfahrtsrechten durch Österreich nicht nur rechtlich, sondern insbesondere politisch höchst relevant.
Zu klären ist auch, ob der EU-Militärstab und die Militärische Planungs- und Durchführungsfähigkeit (MPCC) in die Übung „Defender Europe 21“ entsprechend eingebunden sind. Wenn nicht, dann wäre dies eine Schwächung der GSVP, die es aber von der österreichischen Bundesregierung zu stärken gilt.
Österreich hat gerade als neutraler EU-Staat viel an Handlungsmöglichkeiten für die vertrauensbildenden und friedenserhaltenden Maßnahmen zu bieten. Mit der passiven Unterstützung einer offensichtlich kriegerischen NATO-Drohgebärde durch die Entscheidung der Bundesregierung – und zwar ohne entsprechende parlamentarische Debatte und ohne Einbindung der Zivilgesellschaft – wird der internationale Ruf unseres Landes als traditioneller Vermittler gefährdet.
Die Vermittlerrolle trug unter Außenminister und später Bundeskanzler Bruno Kreisky entscheidend zur Deeskalation im Ost-West-Konflikt und zum hohen Ansehen Österreichs in den internationalen Beziehungen bei. Erinnert sei an das erstmalige Gipfeltreffen zwischen USA und UdSSR 1961 in Wien oder auch an die essenzielle Rolle Österreichs beim Zustandekommen der Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit (KSZE), an der Kreisky 1975 direkt zur Vertrauensbildung zwischen den damaligen atomaren Supermächten bzw. der NATO und dem Warschauer Pakt beitrug. Wien wurde auch der Austragungsort der Konferenz in den Jahren 1986-1989 und schließlich auch Hauptsitz der OSZE.
Dank dieser aktiven Vermittlerrolle Österreichs wurde die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Konfrontation in Europa minimiert. Gemeinsam mit neutralen und nicht-paktgebunden Staaten (N+N) verhalf Österreich zur Stabilität.
Österreich verdankt seinen Wohlstand dem mühsamen Wiederaufbau nach 1955, der auf Freiheit und Souveränität dank der Neutralität basiert. Durch die bewusste Entscheidung, in keinem Militärbündnis aktiv zu sein, ist Österreich Sitz von internationalen Organisationen und kann aktiv zum Frieden beitragen. Ein entsprechendes Verständnis von Neutralität ist für rund 80 Prozent der Österreicher*innen auch eine Selbstverständlichkeit. Offensichtlich gilt das nicht für die Regierung und das Verteidigungsministerium, wo offenbar unvollständige Informationen oder falscher vorauseilender Gehorsam sowie mangelndes Selbstbewusstsein gegenüber Interessen anderer vorherrschen.
Anstatt unser Land für militärischen Durchmarsch nutzen zu lassen, sollte die Bundesregierung aktiv zur Deeskalation der besorgniserregenden Entwicklungen und Spannungen zwischen den Großmächten bilateral oder im Rahmen von internationalen Organisationen beitragen.
Für eine aktive Friedenspolitik ist unsere Neutralität ein beständiger Garant. Aus diesem Grund stellen die unterzeichnenden Abgeordneten nachstehende Anfrage:
1. Wann, von wem und mit welchen Daten und Fakten betreffend „Defender Europe 21“ wurde ein Ersuchen, Österreich für einen Militärtransport der US-Streitkräfte zu nutzen, ergangen?
2. Wurde bei der Genehmigung der Durchfahrtsrechte für die US-Streitkräfte das Neutralitätsgesetz ebenfalls rechtlich und politisch berücksichtigt?
3. Wenn ja, mit welcher rechtlichen und politischen Schlussfolgerung?
4. Wer im BMLV hat die Anwendung des Truppenaufenthaltsgesetztes veranlasst und in wie fern wurde diesbezüglich eine Abstimmung mit dem BMEIA gehalten?
5. Welche Absprachen auf politischer Ebene fanden statt? Wurde das Bundeskanzleramt ebenfalls in die Konsultationen einbezogen?
6. War man sich der allgemeinen internationalen Bedeutung von „Defender Europe 21“ bewusst und wurden diesbezüglich auch Expert*innen-Kreise der OSZE konsultiert?
7. Wenn ja, welche und mit welchem Erkenntnis. Wenn nein, warum nicht?
8. Wurde der politische Charakter der Übung im Zusammenhang der vorherrschenden geopolitischen Spannungen zwischen der USA und NATO einerseits und Russland andererseits berücksichtigt?
9. Wenn ja, inwiefern und mit welcher Schlussfolgerung?
10. Waren Angehörige des BMLV an Debatten bezüglich „Defender Europe 21“ in der OSZE beteiligt?
11. Wenn ja, in wie fern und mit welchen daraus abgeleiteten Erkenntnissen? Wenn nein, warum nicht?
12. Sind auch sicherheits- und verteidigungspolitische Strukturen der EU in die Übung eingebunden?
13. Welche Rolle spielt der EU-Militärstab und das operative Hauptquartier der „Military Planning and Conduct Capability“ (MPCC) bei „Defender Europe 21“?
14. In wie weit unterminiert „Defender Europe 21“ die strategische Autonomie der EU im Bereich der GSVP?